Ein Thema, welches in den letzten (Trainings) Jahrzehnten definitiv zu kurz gekommen ist, ist der Bereich der sogenannten "Neuro Athletik".
Die Neuro Athletik ist wiederum nur ein Teilbereich. Wenn wir nach / mit neurologischen Grundsätzen arbeiten wollen, dann kommen wir um die anderen Bereiche wie z.B. Ernährung, Schlaf, Sinnesorgane usw. nicht herum.
Kurzfassung: Dein Gehirn empfängt den ganzen Tag / die ganze Nacht Informationen aus dem Körper und aus der Umgebung. Diese Informationen werden bewertet, abgeglichen, gespeichert und es wird eine jeweils entsprechende Reaktion / Antwort gegeben.
Dadurch werden "passive" Prozesse ausgelöst, wie z.B. es ist heiß, diese Information wird aufgenommen, verarbeitet und das Gehirn reagiert mit damit, dass wir zu Schwitzen beginnen.
Oder es werden "aktive" Prozesse angeleiert, wie z.B. der Blutzuckerspiegel fällt ab, dies wird im Gehirn registriert, bewertet und das Gefühl "Hunger" wird ausgelöst um uns zu einer Aktion zu bewegen, die wir aber bis zu einem gewissen Grad selbst steuern können.
Diese beiden Beispiele wirken zwar sehr banal, aber verdeutlichen sehr gut und einfach, wie das Gehirn im Hintergrund (das ist dieses Unterbewusstsein von dem alle immer reden) arbeitet. Wenn wir diese Prozesse hinterfragen, beobachten und verstehen lernen, dann können wir auch in den Bereichen Ernährung, Lifestyle, Gesundheit, Training aber auch im "Reha-Bereich" deutlich effektiver arbeiten.
Der Gedanke hinter der Neuro Athletik ist folgender: Wir versuchen den "Output" z.B. eine Bewegung zu verbessern, in dem wir vorher einen bestimmten "Input" geben z.B. die Arbeit mit der Massagegun am Zielgelenk, die Arbeit am visuellen System oder ein Drill für das Gleichgewichtssystem.
Auf das Training bezogen, können wir die Neuro Athletik in zwei Gruppen einteilen.
Rehabilitation: Hier können wir neurologische Grund- & Ansätze nutzen, um sie als wichtige Ergänzung zu rehabilitativen Maßnahmen einzusetzen. Gerade im Bereich der Schmerzreduktion / Schmerztherapie kann man hier für einen echten Unterschied sorgen.
Performance: Auch zur Leistungssteigerung / Entfaltung von vorhandenem Potenzial sind die Ansätze der Neuro Athletik eine interessante Kombinationsmöglichkeit.
Aber bleiben wir im ersten Abschnitt bei dem Thema Rehabilitation & Schmerzlinderung. Jeder von uns kennt das Märchen "der falschen Bewegung". Weil wir uns alle schon mal irgendwie bewegt haben und danach ging es uns schlechter als vorher. Dann versuchen wir alleine oder mit Hilfe sogenannter "Experten" schnell und einfach "diese eine Bewegung" zu identifizieren, die den Schaden nun angerichtet hat. Versteht mich bitte richtig, wenn es sich um einen Unfall oder ähnliches handelt, dann können wir definitiv nach diesem Schema handeln. Meistens führt aber die Annahme der "einen falschen Bewegung" dazu, dass wir diese in Zukunft vermeiden oder wir werden angewiesen diese zu vermeiden.
Und hier sehe ich das viel größere Problem. Vermeidungsstrategien führen in der Regel nur dazu, dass wir eben diese Bewegung nicht mehr trainieren und verbessern. Die Schwachstellen werden also immer schwächer, wenn wir diese Bewegung wieder einmal machen, bekommen wir deutlich größere Beschwerden und die Liste der Bewegungen, die wir unterlassen, wird länger und länger und länger...
(Wir reden hier übrigens nicht über die Akutphase, in der es durchaus Sinn macht, sich in gewissem Rahmen zu schonen!)
Und was hat das nun mit Neuro Athletik zu tun?
Erstens gibt es im Gehirn keine Ablage für falsche Bewegungen. Dies ist ein Konstrukt, welches sich irgendwer, irgendwann, irgendwie ausgedacht hat.
Zweitens ist unser Gehirn auf Sicherheit bedacht. Wir müssen also Bewegungen, bei denen uns das Gehirn Schmerzen schickt (damit wir endlich aufhören), vorsichtig und wohldosiert trainieren, verbessern und üben, damit das Gehirn die Situation als besser / sicherer einstufen kann und somit auch den Schmerzimpuls reduziert. (Schmerz ist einer der Wege, die das Gehirn wählt, um uns an unsicheren Bewegungen zu hindern, die z.B. einen erhöhten Abrieb in einem Gelenk XY provozieren würden)
(Ludwig Kupferschmid - 03/2024)
Die Kniebeuge ist z.B. eine tolle Übung, um herauszufinden, wie stabil die Wirbelsäule bei Auf- und Abbewegungen vom "System" gehalten werden kann. Ich würde mal behaupten, dass wir alleine durch den Faktor Schwerkraft zumindest von oben nach unten kommen sollten. Jetzt gibt es aber genug Menschen, die während der Abwärtsbewegung "hängen" bleiben und nicht tiefer gehen können.
Ein Gefühl von Steifigkeit macht sich breit und jetzt könnte man ja in Richtung "Dehnen" schielen, würde damit aber nicht weit kommen... aber warum eigentlich nicht?
Dein Gehirn hat während der Abwärtsbewegung Risiken wahrgenommen und mit weniger Beweglichkeit reagiert. Dies ist eine Schutzmaßnahme. Ziehen (dehnen) wir jetzt an der Schutzmaßnahme herum, dann wird das zu keinem guten Ergebnis führen.
Wie lösen wir (wahrscheinlich) jetzt das Problem? Gib dieser Person einen Gewicht in beide Hände, welches er/sie vor dem Körper halten muss (Frontload) und du wirst sehen, er/sie kommt direkt tiefer und es wird sich auch besser anfühlen.
Jetzt könnte man sagen und das machen auch ziemlich viele "Experten", hierbei handelt es sich ja nur um einen Trick! Ja das stimmt! Wir nutzen einmal das sogenannte "Schwerpunktsmanagement" und die reflektorische Spannung der Muskeln, welche sich auf der Rückseite des Rumpfes = Rückenmuskulatur befinden. Durch das Gewicht "zwingen" wir mehr Muskulatur anzuspannen, was wiederum zu einer verbesserten Stabilität = Sicherheit führt, was wiederum vom Gehirn mit mehr Beweglichkeit belohnt wird.
Damit können wir übrigens beweisen, dass der Proband weder unbeweglich, verkürzt oder zu schwach für die Bewegung ist und auch kein Dehntraining braucht. Und diese mangelnde Stabilisierungsfähigkeit können wir nun in anderen Bereichen / Bewegungen / Mustern suchen, testen und trainieren. Eigentlich ganz einfach oder!?
Auch wenn ich mit folgendem Ansatz vielen Kollegen widerspreche, was für mich vollkommen ok ist, da viele Wege zum Ziel führen:
Für mich ist die Stabilisation der Wirbelsäule und der Gelenke Priorität Nummer EINS! Denn je mehr Stabilität / Kontrolle ich aktiv und passiv in Bewegung und Haltung habe, desto mehr wird mein Gehirn an Beweglichkeit, Schnelligkeit, Kraft usw. zulassen.
Weitere gute Strategien sind z.B. das Abklopfen & Durchkneten oder die Gabe von Vibrationsimpulsen auf / um ein Gelenk mit Hilfe einer Massagepistole. Dies wird von den Sensoren auf / in / unter der Haut wahrgenommen und direkt an das Gehirn weitergeleitet, was in einer "erhöhten Aufmerksamkeit" resultiert. Dies kann auch durch Wärme & Kälte erzeugt werden. Hier gilt: ausprobieren, worauf man am Besten reagiert. Dann ergänzen wir ein bis zwei Stabilisations- / Ansteuerungsübungen für das jeweilige Gelenk und dann gehen wir direkt in die Bewegung.
(Ludwig Kupferschmid - 03/2024)
Wir können Neuro Athletik auch sehr gut nutzen, um unser Verständnis für
Bewegungen und das Trainieren von Bewegungen zu verbessern.
Ich hatte schon unzählige Personen bei mir, denen von irgendeiner Seite
geraten wurde, dass sie an ihrem Gangmuster arbeiten müssten. Da gibt
es oft dann konkrete Vorschläge, wie man welchen Fuß stellen oder drehen
müsste, wie die Schrittlänge und -Breite sein müsste etc.
All diese Aussagen haben bestimmt ihre Daseinsberechtigung, ABER wir
sprechen hier über ein automatisch = unwillkürlich ablaufendes Muster.
Wir setzen uns zwar willkürlich in Bewegung und können diese willkürlich
verändern, wenn wir aber mal gehen, dann gehen wir, ohne viel darüber
nachdenken zu müssen.
Und dann können wir uns auch bestimmt ganze 10 Sekunden auf die Anweisungen vom "Experten" konzentrieren, dann setzt aber wieder
das unwillkürliche Muster ein und wir gehen wieder so, wie wir gehen.
Diese "falschen" Muster eignen wir uns übrigens nicht an, weil wir doof sind, sondern weil unser Gehirn dieses Muster XY als besonders
effizient und sicher empfindet. Vielleicht hast du in linken Knie bereits einen leichten Knorpelschaden und deswegen verlagert dein Gehirn, den gemeinsamen Körper halt etwas mehr auf rechts? Dies gilt übrigens auch für Haltungen und viele weitere Beispiele.
Wenn wir also zum Beispiel unser Gangbild verbessern möchten, dann müssen wir unser Muster analysieren und herausfinden, warum wir gehen, wie wir halt eben gehen. Und falls es uns gelingt mögliche Defizite zu finden, dann können wir diese gezielt trainieren und unser Gehirn wird das Muster wieder entsprechend neu anpassen. Aber ein Muster von sozusagen "extern" korrigieren zu wollen, klappt nur in den seltensten Fällen.
(Ludwig Kupferschmid - 03/2024)
Bestimmt hast du schon einmal das "Märchen vom richtigen und falschen Sitzen" gehört...
Um hier gleich einmal Klarheit und Wahrheit zu verbreiten: jede Haltung wird ab einer gewissen Zeit zu einer Zwangshaltung. Also egal wie du sitzt, ob nun krumm und buckelig, oder ganz aufrecht und gerade, dein Körper ist nicht dafür gebaut, um längere Zeit in Stellung XY zu bleiben.
Wenn wir ihn aber trotzdem dazu zwingen, weil wir z.B. gerade sehr konzentriert am Laptop sitzen, dann wird das Gehirn als erstes versuchen, mit Hilfe von Stresshormonen, uns zum Umsetzen und Neuausrichten zu bewegen. Ihr kennt doch die Leute, die unruhig auf ihren Stühlen sitzen. Bei einem Großteil läuft ein gut funktionierendes Muster ab, in dem das Gehirn für einen permanenten Ausgleich sorgt. Also kein Teil des Körpers wird unnötig lange belastet, da die Lagerung ständig leicht verändert wird. Dies empfinden Außenstehende aber oft als nervig und wir neigen dazu es den Leuten abzugewöhnen. Besonders bei Kindern ist dieser Schritt mehr als fragwürdig!
Mit das Beste was wir tun können, um das Sitzen wieder zu entschärfen sind regelmäßige "Movement Breaks" = Bewegungspausen. Recken, strecken, aufstehen, durchbewegen und den Blick in die Ferne richten, damit können wir einen echten Unterschied machen. Gute Büromöbel, ein ergonomischer Arbeitsplatz usw. sind wichtige Komponenten, aber ohne die "Movement Breaks" fast schon verschwendetes Geld!
Und ja, wir müssen hier Arbeitsplätze und Abläufe überdenken und ändern. Kein Mitarbeiter hat etwas davon, wenn ich ihm eine Bild mit "richtigem und falschem Sitzen" hinlege und sage: "mach mal!"...
Schmerz ist übrigens das nächste Mittel, was unser Gehirn einsetzen kann, damit wir endlich aus Haltung XY rausgehen. Unser Rücken kann also vom vielen Sitzen schmerzen, obwohl (noch) kein Schaden z.B. an den Bandscheiben vorliegt. Daraus resultieren meiner Meinung nach dann die Empfehlungen, sich z.B. aufrechter hinzusetzen, da bei einer langen, nach vorne geneigten Haltung natürlich Folgeschäden entstehen werden. Dies ist also eine Vermeidungsstrategie, die bis zu einem gewissen Grad auch funktioniert, die Probleme aber nicht bei der Wurzel anpackt.
(Ludwig Kupferschmid - 03/2024)